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Das Dezentrum führt einen Bedarfslohn ein

Ruben Feurer, Gesa Feldhusen
31.10.2022

Was wäre, wenn jede Person so viel Geld erhält wie sie braucht? Wir probieren es aus und stellen unser neues Lohnmodell Open-Source zur Verfügung.

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Jede Organisation hat ihr eigenes Lohnmodell. Der Schweizer Bund setzt beispielsweise auf transparente Lohnklassen. Andere Organisationen legen den Lohn anhand von Kriterien wie Alter, Erfahrung und Loyalität fest oder verzichten gar ganz auf Richtlinien. Im Dezentrum hatten wir auf einen Einheitslohn gesetzt. Das hat gut funktioniert, bis sich unser anfänglich sehr homogenes Team verändert hat und der Lohn nicht mehr für alle ausreichend war.

Kann der finanzielle Bedarf einer Person nicht gedeckt werden, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass sie über kurz oder lang nicht mehr Teil unserer Organisation sein kann. Wir brauchen also ein neues Lohnmodell, um keine Partner*innen zu verlieren. Ein Bedarfslohn scheint das Problem eines unzureichenden Lohnes zu lösen. Doch es gibt kaum öffentliche Erkenntnisse dazu. Daher setzen wir auf eine bewährte Methodik: Wir erproben den Bedarfslohn mittels eines Experiments, welches jederzeit abgebrochen werden kann.

Tatsache ist, dass alle von uns einen unterschiedlichen Geldbedarf haben. Manche von uns absolvieren ein Nebenstudium, haben bereits eine Familie gegründet oder bezahlen hohe Krankenkassenprämien. Andere wohnen in subventioniertem Wohnraum oder haben bereits Erbe erhalten. Bedarf ist komplex. Familie, Gesundheit, Erbe und vor allem Glück haben einen direkten Einfluss auf den individuellen Bedarf. Manche leben in privilegierten Lebensumständen, während andere mit Herausforderungen zu kämpfen haben, für die sie nichts können. Mit unserem Lohnmodell möchten wir auf diese Umstände eingehen.

So funktioniert unser Modell

Die Löhne für Partner*innen im Dezentrum werden aus zwei Faktoren zusammengesetzt. Der erste Teil ist ein Grundlohn in der Höhe von 6000 CHF (auf 100%). Wird der eigene Bedarf damit nicht gedeckt, kommt ein Zusatzbedarf von CHF 0 bis maximal 2’500 CHF hinzu. Somit liegt der Minimallohn bei 6’000 CHF und der Maximallohn bei 8’500 CHF. Diese Beträge wurden im Team ausgehandelt und bewegen sich im Bereich des Medianlohns der Stadt Zürich (8’000 CHF).

Der Zusatzbedarf wird von jeder Partner*in, anhand eines Leitfadens individuell festgelegt. Was aber geschieht, wenn zwei Jobkandidat*innen einen unterschiedlich hohen Bedarf benötigen? Nehmen wir dann die Person, mit dem geringeren Bedarf? Das wäre ungerecht. Damit Kandidat*innen unabhängig vom Bedarf gleiche Chancen haben, wird der Bedarf erst nach der Anstellung ermittelt.

Wie wir unseren Bedarf ermitteln

In üblichen Lohnsystemen wird der Lohn von Vorgesetzten bestimmt. Doch das funktioniert beim Bedarf nicht. Nur ich kenne meinen Bedarf. Doch wie kann ich diesen ermitteln?

Damit wir bei der Bestimmung des Bedarfs ähnlich vorgehen, haben wir einen Leitfaden entwickelt. Dieser enthält acht Reflektionsfragen, welche die Ermittlung des Betrags anleiten. Nachfolgend ein paar Beispiele: Kannst du mit dem Betrag sorgenfrei leben? Glaubst du, ein höherer Beitrag würde dich signifikant glücklicher machen? Würdest du dich mit dem Betrag wertgeschätzt fühlen?

Wenn wir alle unseren Bedarf festgelegt haben, kommen wir zusammen und teilen unsere Gedankengänge und Berechnungen mit dem Team. Nach diesem Gespräch hat jede*r die Möglichkeit, ihren oder seinen Bedarf nochmals anzupassen. Weshalb wir den offenen Dialog über den Bedarf für wichtig halten, wird in den folgenden Abschnitten erläutert.

Was ist ein angemessener Bedarf?

Es ist äusserst schwierig zu beurteilen, ob ein Bedarf gerechtfertigt ist oder nicht. Veranschaulichen wir uns das in einem Beispiel: Sagen wir, ich bin passionierte*r Rennradfahrer*in, besitze mehrere Räder und Reise regelmässig nach Italien. Dafür brauche ich etwa 300 CHF im Monat. Mein Teamkollege Luca (Person erfunden) möchte seine Eltern mit 300 CHF im Monat unterstützen, weil sie eine sehr kleine Rente haben. Würdest du beide Bedarfe akzeptieren? Ist ein Bedarf wichtiger als der andere? Darüber könnten wir stundenlang philosophieren und womöglich nie zu einer Antwort kommen. Doch genau diese Fragen finden wir wichtig zu beleuchten, denn nur dadurch können wir damit anfangen, das Tabuthema Lohn zu entstigmatisieren.

Bei uns im Team gehen wir davon aus, dass niemand die Absicht hat, die anderen auszunutzen und vertrauen darauf, dass jede*r einen (angemessenen) Bedarf festlegt. Deshalb bestimmt bei uns jede*r den Bedarf eigenständig. Durch Gespräche entwickeln wir im Team ein geteiltes Verständnis davon, was ein angemessener Bedarf ist.

Strukturelle Pay Gaps adressieren

Löhne oder Lohnsysteme sind keine neutralen Modelle. Sie bewegen sich in einem komplexen Raum von verschiedenen internalisierten Annahmen der Leistungsgesellschaft, sowie strukturellen Dynamiken. Ein Aspekt dieses komplexen Raumes ist die strukturelle Diskriminierung aufgrund von Gender, welche zu Paygaps führt1. So wurde festgestellt, dass Frauen generell weniger bereit sind Verhandlungen zu starten2. Ein Faktor, wieso dem so ist, ist, dass Frauen sozialisiert sind, sich weniger durchzusetzen3. Darüber hinaus sind Verhandlungen für Frauen ein soziales Risiko, da es gegen die Gender-Rolle geht, dass Frauen grosszügiger und nachsichtiger sind. Zudem ist die Abneigung, mit Arbeitnehmenden zusammenzuarbeiten, die höhere Löhne aushandeln, bei Frauen durchschnittlich höher als bei Männern4. Deswegen ist es uns wichtig zu adressieren, dass auch ein Bedarfslohn nicht frei von struktureller Diskriminierung ist. Um dieser Problematik entgegenzuwirken und Ungerechtheiten zu identifizieren, sprechen wir offen über Geld und führen aktiv Statistik. So können wir gewährleisten, dass das Lohnmodell transparent bleibt und versuchen, Pay Gaps zu minimieren.

Was wir uns vom Bedarfslohn erhoffen

Der Ansatz des Modell ist es, dass wir mit dem Bedarfslohn den Partner*innen ein finanziell sorgenfreies Leben ermöglichen und das Tabuthema Lohn aufbrechen. Wir erhoffen uns davon, dass wir mit dem Bedarfslohn ungleiche finanzielle Ausgangslagen ausgleichen können und die Solidarität in unserem Team stärken.

Mit dem Experiment möchten wir unsere These überprüfen, dass Dezentrum Partner*innen mit einem Bedarfslohn frei von finanziellen Sorgen sind und sich fair behandelt und wertgeschätzt fühlen. Um verfolgen zu können, ob dies der Fall ist, führen wir regelmässig anonyme Umfragen durch.

Mit der Veröffentlichung unseres Lohnmodells möchten wir unsere Arbeit anderen Organisationen zugänglich machen und Kritik durch Leser*innen aussetzen. Im Dokument wirst du allenfalls auf dir unbekannte Begrifflichkeiten stossen. Der Grund dafür ist, dass wir uns seit einem Jahr mit Soziokratie 3.0 organisieren und entsprechend auf Begriffe aus dem Organisationsframework referenzieren.

Download Lohnmodell Dezentrum

Sind uns Denkfehler unterlaufen? Haben wir etwas Wichtiges vergessen? Wir freuen uns über Inputs, Feedback und kritische Fragen.

Referenzen

[1] Barron, L. (2003). Ask and you shall receive? Gender differences in negotiators’ beliefs about requests for a higher salary. Human Relations, Volume 56(6): 635–662. https://doi.org/10.1177/00187267030566001


[2] Bowles, H. R., & Babcock, L. (2012). How Can Women Escape the Compensation Negotiation Dilemma? Relational Accounts Are One Answer. Psychology of Women Quarterly, 37(1), 80–96. https://doi.org/10.1177/0361684312455524


[3] Bowles, H.R., & Babcock, L., & Lai, L. (2006.) Social incentives for gender differences in the propensity to initiate negotiations: Sometimes it does hurt to ask. Organizational Behavior Process and Human Decision Process, Volume 103: 84-103. doi:10.1016/j.obhdp.2006.09.001


[4] Wade, M. E. (2001). Women and salary negotiation: The costs of self-advocacy. Psychology of Women Quarterly, Volume 25: 65-76.

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